Der Moment im Zeitenfluss

Studierter Germanist und Medienwissenschaftler, 1972er Jahrgang, Berliner. Und – selbstredend – passionierter Fotograf. Ob Berlin oder Istanbul, McPomm oder Myanmar, Brandenburg oder Island; beim Fotografieren versucht Martin Seeliger stets, sich freizumachen von bestimmten Vorstellungen und Erwartungen, die ihn blind für das Spontane und Unerwartete machen könnten. Sein neuestes Projekt ist eine Ausstellung über das historische Arakan, das im heutigen Myanmar gelegen ist.

Shyness and Curiosity von Martin Seeliger

Shyness and Curiosity von Martin Seeliger

Wie bist Du zur Fotografie gekommen?

Ich war 13 Jahre alt. Mein Vater bewahrte in einer großen Kommode eine alte Akarette von 1949 auf, die er zu seiner Konfirmation von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte. Die hat mich damals fasziniert. Ich durfte mit dieser schlichten Kamera meine ersten Bilder machen, und musste dabei viel Lehrgeld zahlen, da alles noch nach einem externen Belichtungsmesser manuell eingestellt werden musste. Bis ich dann die schwergängigen Einstellräder in der richtigen Position hatte, war der richtige Augenblick meist vorbei. Aber Henri Cartier-Bresson sagte ja: „Deine ersten 10.000 Aufnahmen sind die schlechtesten.“ Ich finde, dieser Ausspruch hilft gut über die erste Durststrecke hinweg, denn bis ich mit meinen Fotoresultaten einigermaßen zufrieden war, war ich schon 27 oder 28 Jahre alt und hatte die Akarette längst durch Spiegelreflexkameras ersetzt.

Was muss ein guter Fotograf können, wissen, wollen?

Mit der Akarette habe ich schnell gelernt, welche technischen Parameter für das Fotografieren wirklich wichtig sind, und das sind nicht allzu viele: Blende, Verschlusszeit, Schärfe und vielleicht noch die Brennweite. Wenn man weiß, wie man diese Variablen gezielt zur Unterstützung der Bildwirkung einsetzt, hat man den größten Teil der technischen Seite verstanden. Man braucht keinen Apparat mit tausend Belichtungsprogrammen, wenn man grundlegend weiß, wie man beispielsweise eine Langzeitbelichtung macht. Auf der gestalterischen Seite dagegen warten viel mehr Herausforderungen auf einen. Und ich denke, wenn man nicht gerade Studio-Fotograf ist, liegt die größte Herausforderung darin, vorauszuahnen, wie sich die Situation vor der Kamera entwickelt. Nur so kann man den richtigen Moment einfangen, der das Vorher und das Nachher auf einen Punkt bringt. Das eigentliche Ziel des Fotografierens ist für mich: die Situation vor der Kamera in einer Bildkomposition einzufangen, die nicht beliebig, sondern alternativlos wirkt. Dieser Anspruch an mich selbst ist die treibende Kraft, wodurch das Fotografieren für mich immer spannend bleibt. Ich denke, dieses ständige An-sich-Arbeiten macht einen guten Fotografen aus.

Snowy Parang La von Martin Seeliger

Snowy Parang La von Martin Seeliger

 Welche wichtigen Lektionen hast Du im Laufe der Jahre über das Fotografieren gelernt?

Ich habe lange gebraucht um zu lernen, mich ganz auf eine Situation einzulassen und mit dem zu arbeiten, was ich vor Ort in diesem Moment gerade vorfinde. Sei es das Licht, bestimmte landschaftliche oder architektonische Konstellationen oder Menschen. Besonders in der Anfangszeit bin ich oft mit ganz bestimmten Vorstellungen oder sogar fertigen Bildkompositionen im Kopf an einen Ort gekommen. Aber solche Vorstellungen können nur enttäuscht werden – und hemmen auch die eigene Kreativität und Spontaneität. Jedenfalls ist es nicht meine Art zu fotografieren. Andere Fotografen dagegen haben es perfektioniert, Situationen von vorn bis hinten zu inszenieren und nichts dem Zufall zu überlassen.

Was kann Fotografie?

Auch wenn man mit der Fotografie perfekte Illusionen und Inszenierungen herstellen und sich damit auch der Malerei stark annähern kann – ich denke, das eigentlich Wesentliche der Fotografie ist immer noch das Dokumentarische. Die spezifische Eigenschaft, einzelne Momente aus dem ewigen Zeitenfluss zu isolieren und gleichsam als historische Stichprobe für die Nachwelt aufzubewahren. Wenn ich historische Aufnahmen von Berlin aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts sehe, kriege ich oft eine Gänsehaut. Besonders die Stadtansichten von Waldemar Titzenthaler um 1900 und seine Berliner Interieurs 1910 – 1930 zeigen eindrucksvoll, dass die Fotografie bereits zu dieser Zeit ihre technische Perfektion erreicht hatte. Die Bilder weisen im Gegensatz zur digitalen Fotografie eine absolut souveräne, natürliche Schärfe auf, die nur mit richtig großen Aufnahmeformaten zu erreichen ist. Alles wirkt so präsent, als könne man in diese Bilder hinein steigen. Dann wünsche ich mir immer heimlich, eine Zeitmaschine zu haben, um in dieser Zeit als Tourist durch die Berliner Straßen schlendern zu können.

Wie kommst du zu deinen Motiven?

Ich bin in erster Linie Beobachter, jemand, der sich kontemplativ einer Szenerie widmet und den Vorgang des Fotografierens fast als eine Art Meditation empfindet. Wenn ich einen bestimmten Ort gefunden habe, der für mich fotografisch viel zu bieten hat, dann kehre ich an diesen Ort – wenn möglich – erneut zurück und bleibe dort meist auch längere Zeit, um ihn besser kennenzulernen und weniger an der Oberfläche zu bleiben. Das war auch meine Arbeitsweise für die Aufnahmen in Myanmar. Ich bin nicht nur viermal in dieses Land zurückgekehrt, sondern habe dort ganz bestimmte Orte immer wieder aufgesucht, um den Moment einzufangen, der seiner  spezifischen „Aura“ nach meinem Empfinden am nächsten kommt.

Daybreak at Thanlyin River von Martin Seeliger

Daybreak at Thanlyin River von Martin Seeliger

Wo fotografierst du am liebsten und warum?

Ich habe ein Faible für Landschaften, die auf den ersten Blick eigentlich öde sind: die Mondlandschaften auf Island, die Hochgebirgslandschaften des Himalaya, das kann man auch auf meiner Homepage gut nachvollziehen. Durch das vermeintliche Fehlen der Vegetation liegt die Erde gleichsam nackt vor einem und meist wirken diese rauen Gesteinsformationen und -konturen viel dramatischer und skurriler als beispielsweise der üppigste Regenwald.

Changtang Plateau von Martin Seeliger

Changtang Plateau von Martin Seeliger

Bislang aber – und das hat mit diesen kargen Landschaften eigentlich gar nichts zu tun – habe ich am liebsten in Myanmar fotografiert. Das lag vor allem an den Menschen, denen ich dort begegnet bin. Ich habe den Eindruck, dass sie nicht so berechnend sind, sondern eine gewisse Natürlichkeit im Umgang mit Fremden bewahrt haben. Dieses Aufeinander-Rücksichtnehmen in der Gemeinschaft ist für mich das Wesentliche, das dieses Land – noch –von anderen unterscheidet und vor allem die Menschen vor der Kamera völlig unbefangen agieren lässt. Ich denke, man kann es manchen der Bilder aus Myanmar ansehen: Die Menschen nehmen die Kamera meist gar nicht wahr, sondern schauen durch das Objektiv einem direkt ins Gesicht.

Pride and Humility von Martin Seeliger

Pride and Humility von Martin Seeliger

Die Geschichte hinter einem Deiner Bilder. Gibt es ein Bild, das Dir besonders am Herzen liegt? Warum?

Da muss ich schon länger überlegen, da ich ein eigenes Lieblingsbild so gar nicht im Kopf habe, das gilt eher in Bezug auf Fotos anderer Fotografen. Vielleicht liegt das daran, dass ich selten mit einer eigenen Aufnahme völlig zufrieden bin. Eine Szene aber, die sich mir beim Fotografieren fest eingeprägt hatte, ist die hinter dem Bild eines Klosters im nordindischen Zanskar-Gebiet.

Gebetstrommel von Martin Seeliger

Gebetstrommel von Martin Seeliger

Für die Aufnahme habe ich kein einziges Detail verändert, die Kerzen brannten bereits, alles war an seinem Platz, als hätte man es für eine Filmszene arrangiert. Als ich das Stativ aufbaute, kamen schnell zwei Novizen herbei, die die Trommel umdrehen wollten, damit man das gerissene Fell nicht sieht. Aber gerade diese Unregelmäßigkeit erzählt eine eigene Geschichte. Man hat die Novizen geradezu vor Augen, wie sie in einem unbeaufsichtigten Moment etwas zu übermütig auf das Fell einschlagen. Deswegen auch ihr Versuch, die unbeschädigte Seite der Trommel zu zeigen. Ich durfte es dann aber doch mit gerissenem Fell aufnehmen, und so wirkt das Bild natürlich viel spannender und plastischer.

Dein nächstes Projekt ist eine Ausstellung über Myanmar – ein Land, das nicht gerade berühmt für seinen hohen Grad an Meinungsfreiheit ist. Wie ist es, dort als Fotograf zu arbeiten?

Strength and Serenity von Martin Seeliger

Strength and Serenity von Martin Seeliger

Myanmar erlebt gerade eine Phase großer wirtschaftlicher aber auch sozialer Veränderungen. Das ist mittelbar auch Thema unserer Ausstellung „Sagenhaftes Arakan“, die ab 15. Mai 2015 in der Galerie Kuhn & Partner in Berlin-Schöneberg zu sehen sein wird. Denn was wir dort über die ehemalige Königsstadt Mrauk U zeigen, ist eigentlich jetzt schon historisch und rückwärtsgewandt. Viele Aufnahmen von 2011 und 2012 konnte ich bereits 2014 nicht mehr reproduzieren, da Mobilfunk-Umsetzer, Überlandleitungen sowie begonnene Bahntrassen und Brückenköpfe die Kulturlandschaft stark verändert haben. Ein Flugplatz in nächster Nähe ist auch schon geplant. Diese Stadt wird also in voraussichtlich fünf bis zehn Jahren nicht mehr dieselbe sein. Diese Veränderungen gelten auch für die Meinungsfreiheit, nur dass sie sich hier sehr viel subtiler zeigen. Es sind jetzt seit letztem Jahr unabhängige Zeitungen auf dem Markt, die nicht von der Regierung im Vorhinein zensiert werden – das haben uns jedenfalls Leute bestätigt, die in Myanmar in diesem Metier arbeiten. Zumindest im Alltag ist nichts mehr davon zu spüren, dass die Menschen besonders große Rücksicht darauf nehmen, ob sie nun etwas Regierungskritisches sagen, das eventuell falsch ausgelegt werden könnte. Noch auf meiner ersten Reise nach Myanmar zwischen den Jahren 2010 und 2011 haben mich ausschließlich Mönche – also die Bevölkerungsgruppe, die 2007 als erste den Mut hatte, laut Kritik am Regime zu üben – offen auf die bestehenden Missstände in Myanmar angesprochen. Ganz leise hinter vorgehaltener Hand fragten sie mich, woran es wohl liegen möge, dass dieses Land so viel ärmer sei, als seine Nachbarstaaten. Schon ein Jahr danach, habe ich das so nicht mehr erlebt, man sprach dann überall sehr offen, manchmal auch bewusst provokativ über gesellschafts- und regierungskritische Themen. Insofern fühlte ich mich beim Fotografieren vor Ort in meiner Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt. Trotzdem war ich oft erstaunt, dass ich an manchen Orten von Polizisten angesprochen wurde, die bereits vorher die Information hatten, dass ich an jenem Tag in ihrer Stadt ankommen würde. Der Informationsfluss scheint also immer noch wie in den Tagen der Militärherrschaft zu funktionieren. Und freilich sind auch die üblichen Probleme wie Korruption auf höchster Ebene nicht beseitigt. Es ist bekannt, dass die großen profitablen Hotelanlagen und einige nationale Fluggesellschaften in der Hand wichtiger Regierungsmitglieder sind.

Dein Fokus lag auf dem ehemaligen Reich Arakan, das heute im Westen Myanmars liegt. Dieser Teil des Landes hat in den letzten Jahren aufgrund ernster ethnischer und religiöser Konflikte traurige Berühmtheit erlangt: Die dort ansässige Volksgruppe der Rohingya wird brutal verfolgt, diskriminiert und nahezu komplett von der Außenwelt abgeschirmt. Kann man an solch einem Ort fotografieren, ohne dabei politisch zu sein?

Ich habe Mrauk U und sein Umfeld in der Rolle des staunenden Reisenden fotografiert und versucht, die Schönheit dieser einzigartigen Kulturlandschaft wiederzugeben. Auch wenn ich keine politischen Intentionen dabei bewusst verfolgt habe: so wie man nie nicht kommunizieren kann, so kann man auch nie unpolitisch sein. Es wird immer Leute geben, die meine Fotografien als bewusstes Ignorieren der politischen Realität auslegen werden. Ich bin der Meinung, dass es darauf ankommt, was man mit seiner Fotografie erreichen will. Ich bin kein Krisen- oder Kriegsfotograf. Ich hatte nie den kompromisslosen Anspruch, für meine Fotos große Risiken einzugehen oder wie Robert Capa für seine Fotos gar zu sterben. Zu dieser Zeit, als die Auseinandersetzungen zwischen Buddhisten und den muslimischen Rohingya auf dem Höhepunkt waren, verhängte die myanmarische Regierung ein Einreiseverbot für Touristen und die deutsche Botschaft warnte lange Zeit vor Reisen in diese Region. 2012/2013 war ich also nicht vor Ort und ich hätte auch nicht den Helden spielen wollen, um mit meinen Bildern der ganzen Welt vor Augen zu führen, welche Greueltaten sich dort – unleugbar – abspielten; das überlasse ich gern anderen, die das Metier der fotografischen Berichterstattung viel besser beherrschen. Aber ich denke, die Berichterstattungen über den Rakhine-Staat im Westen Myanmars und der Rohingya-Konflikt zeigen auch sehr gut, wie die Medien generell funktionieren. Kein Mensch hatte vorher je etwas in den Massenmedien von diesem Landstrich erfahren, keiner kennt den dortigen Alltag aus der Zeitung. Es sind die Extremfälle, die vom größten Teil der Journalisten wahrgenommen werden, und die dann das Bild dieser Region wie ein Stigma entscheidend prägen.

Welche Art von Publikum erhoffst Du Dir mit dieser Ausstellung zu erreichen?

Aktuell und auch im nächsten Jahr wird es große Ausstellungen zum Thema Myanmar geben. Die meisten Ausstellungen aber präsentieren sich mehr oder weniger als Gemischtwarenladen, in dem möglichst unterschiedliche Ausstellungsobjekte aus allen Teilen Myanmars gezeigt werden. Vor dem Hintergrund der vielen Gesamtschauen finde ich, ist es an der Zeit, sich genauer einzelnen Regionen dieses faszinierenden Landes zu widmen. Insofern ist Arakan ein sehr spezielles Thema, da diese Region sehr lange Zeit durch die hohen Gebirgszüge vom Rest des heutigen Myanmars abgeschottet war und sich dort ab dem 13. Jahrhundert eine ganz eigene Kultur entwickeln konnte, die heute vor allem im architektonischen Erbe zum Ausdruck kommt. Das Thema Arakan mit seiner einstigen Königsstadt Mrauk U wird deshalb weniger die reinen Fotoenthusiasten ansprechen. Da die Ausstellung meine Fotografien mit den Ölgemälden meines arakanischen Partners Shwe Maung Thar kombiniert, gehe ich eher davon aus, dass vor allem Kultur- und Kunstbegeisterte aber auch Asienreisende und -interessierte sich durch dieses Thema inspirieren lassen. Wenn wir es schaffen sollten, dass sich weitere Menschen für den Erhalt dieser einzigartigen Kulturlandschaft engagieren wollen, dann haben wir mit diesem Projekt schon sehr viel erreicht.

In Martin Seeligers Galerie auf Photocircle findet Ihr eine Riesenauswahl toller Aufnahmen, vor allem aus Süd- und Südostasien. Weitere schöne Bilder und Neuigkeiten veröffentlicht er außerdem auf seiner Webseite.

Old Veterans von Martin Seeliger

Old Veterans von Martin Seeliger

Green Oasis von Martin Seeliger

Green Oasis von Martin Seeliger

Tree Amount
368.320
Seit 2021 konnten wir dank unserer Bildverkäufe bereits 368.320 Bäume pflanzen. Diese Bäume werden innerhalb der nächsten fünf Jahre ca. 29.465.600 kg CO₂ aufnehmen und verbessern zudem die Lebensbedingungen der Menschen vorort.